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Die Mondin

Jeden Abend, wenn der Tag sein Tageswerk beendet und die Nacht willkommen heißt, dann, ja dann schaut die Mondin zum Fenster hinaus. Sie macht es sich auf dem Fensterbrett gemütlich. Wie eine alte Omi, die sich ein Kissen unter ihre Arme legt, damit es bequemer ist, am Fenster. So ein Kissen, das mit Blumen bestickt ist und mit Federn gefüllt . Und meistens steht noch eine Tasse Kaffee daneben. Eine Tasse heißer, dampfender Kaffee mit einem Schuss Kaffeesahne. Genauso wie ihr es euch jetzt vorstellt, mit der Omi am Fenster, genauso sitzt auch die Mondin gern an ihrem Fensterplatz.
Sie hat die Jahre vergehen sehen und die Jahrhunderte. Sie hat bereits auf Straßen geschaut als die Straßen noch staubige Trampelpfade waren und anstatt der vielen Häuser, die jetzt überall stehen, gab es Bäume und Wald und Natur und Tiere. Sie hat die Menschen gesehen, wie sie anfingen die Bäume zu fällen, um Häuser zu bauen. Wie sie die Holzhäuser durch Steinhäuser ersetzten und wie sie die Trampelfade zu schönen breiten Prachtstraßen ausbauten mit Laternen und Blumenkübeln. Das alles und noch viel mehr hat die Mondin von ihrem Fenster aus gesehen. Und jeden Abend freut sie sich auf ein neues Schauspiel, dass wir Leben nennen.

Ha, jetzt glaubt ihr mir nicht, stimmts? Heißt es doch immer - DER Mond schaut zum Fenster hinein. Aber ich sage euch, es ist DIE Mondin, die zum Fenster HINAUS schaut. Die silberne Scheibe zu der wir hinaufsehen, wenn wir in einer Vollmondnacht spazieren gehen, ist nicht da draußen im Weltall. Sie dreht sich auch nicht um die Erde. Das was ihr da manchmal am Himmel seht, ist nicht die Mondin selbst, sondern die Reflexion ihres Lichts. Wenn es nämlich zu kalt oder zu windig ist, dann macht sie das Fenster gar nicht erst auf und so kann es passieren, dass die Fensterscheibe das Mondlicht an den Himmel wirft.

Die Mondin ist eine stumme Beobachterin. Sie blickt hinunter auf die Strasse und wartet geduldig darauf, dass das Leben eine seiner Geschichten preis gibt. Die liebsten Geschichten sind ihr die, die von der Liebe erzählen.

Mit der Liebe ist das ja so eine Sache. Wo fängt sie an? Wo hört sie auf? Ist verliebt sein schon Liebe? Auf jeden Fall lieben ja Eltern ihre Kinder. Immer. Auch wenn sie sie manchmal doof finden dürfen. Ja, auch wenn man sich streitet, liebt man sich. Die Liebe braucht keine Worte. Vielleicht hat sie auch gar keine. Sie ist mehr als ein Gefühl und mehr als unser Verstand begreifen kann. Sie braucht keinen Ausdruck und keine Bestätigung und ihre Vollkommenheit entsteht nicht in der Erwiderung, sondern durch ihr Gegenteil.

Nicht jede Liebe wird gelebt. Nicht jede Liebe wird geliebt. Und doch sind diese Liebesgeschichten die Schönsten. So wie die von dem Zahnarzt und seiner Patientin.

Die Zähne der Menschen war alles was er hatte. Er mochte es, wenn sie auf seinem Stuhl lagen, den Mund weit offen, im Vertrauen und ihm ausgeliefert. Er hatte noch nie viele Worte und niemand erwartete sie von ihm. Das war der Grund warum er immer noch allein war. Man gründet schweigend keine Familie. Als sie dann eines Tages in seinem Stuhl saß, war er wirklich sprachlos. Ihr Gebiss war etwas besonderes. Für ihn und seine Liebe zur Arbeit. Er hätte sie gern da behalten, aber sie wollte so schnell wie möglich wieder weg. Sie nahm sein zaghaftes Werben nicht wahr. Der Grund dafür war ihre Arroganz privilegierten Leuten gegenüber. Und Zahnärzte waren in ihren Augen privilegiert. Er würde nie Teil ihres Lebens sein können, denn ihre Liebe galt den Menschen, die zu keiner Liebe mehr fähig waren. Die von der Gesellschaft ausgeschlossen und abseits lebten. Sie hatte viel zu geben. Nur nicht ihm.

Soll ich euch noch erzählen wo die Mondin den Tag verbringt, wenn die Nacht vorbei ist? Sie geht auf Wanderschaft, immer mit dem selben Ziel. Sie verlässt ihren Fensterplatz und macht sich auf den Weg ins höchste Gebirge der Welt. Sie muss Felder durchstreifen, Flüsse durchqueren, Berge bezwingen, um Täler zu durchschreiten um dann auf dem höchsten Gipfel der Welt eine Pause einlegen zu können. Dort oben auf der Spitze des Mount Everest, da begegnet sie jeden Tag dem Himmel. Der Himmel wartet jeden Morgen auf die Mondin und die Mondin bringt ihm jedes Mal eine neue Geschichte mit. Sie hat ihm von dem Mann mit dem Hund erzählt, von dem Schneidermeister aus Istanbul, von der Frau mit der niedlichen Ratte und von dem Zahnarzt und seiner Patientin. Die Weisheit des Himmels ist die Weisheit der Mondin. Und umgekehrt.

Und wenn ihr jetzt an meinen Worten zweifelt, dann erinnert euch daran, dass die Mondin auch manchmal tagsüber zu sehen ist. Da oben am Himmel. Wenn sie euch das nächste Mal auffällt, dann wisst ihr, dass sie gerade auf dem Gipfel des höchsten Bergs der Welt den Himmel besucht. Auch heute wird der Mond wieder an seinem Fenster sitzen und sich überraschen lassen, von den Geschichten, die wir Leben nennen.

Aber das nächste Mal, wenn du abends oder nachts spazieren gehst, und wenn es draußen warm ist, dann schau mal in welchem Fenster du den Mond entdecken kannst.

wie wir nach Hause eilen oder zu einer Verabredung, oder wie wir einen Abendspaziergang machen, zu zweit mit der Liebe unseres Lebens oder allein, weil wir die Liebe des Lebens noch nicht gefunden haben. Er kann von seinem Fenster auch in dein Fenster schauen, wenn du einer von denen bist, die nachts nie auf die Straße gehen würden. Dann wagt er den Blick in dein Zuhause, um auch deine Geschichte zu sehen.


 

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