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Das Mädchen

Gib mir deine Hand, sprach das Mädchen, das da plötzlich neben mir stand. Und ich erschrak.
Ich hab sie nicht kommen sehen, hab sie nicht kommen hören, hab nicht damit gerechnet, dass überhaupt jemand kommt. Dass mich überhaupt jemand ansprechen würde. Jemals.

Gib mir deine Hand.

Alles was ich tat, war meine Hand zu heben. Meine Hand. Nie zuvor hatte sie jemand gehalten. Und jetzt wollte dieses Mädchen genau das tun?

Gib mir deine Hand.

Ihre offene freundliche Aufforderung ließ mir gar keine Wahl. Ich gab ihr meine Hand. Und sollte nie wieder ihre klare unschuldige Stimme hören.

Da standen wir beide nun. In dieser Winterlandschaft, die über Nacht so überraschend kam. Genauso überraschend wie das Mädchen eben neben mir aufgetaucht war.

Es war kalt da draußen. In dieser Welt. Auch ohne Winter, ohne Schnee.

Das kleine Mädchen machte einen Schritt nach vorn. Sie hatte rote Schuhe an. Mit Schnürsenkeln, die offen waren. Ich wollte es ihr gern sagen, wollte sie ihr gern schnüren. Aber ich konnte nicht. Wie so vieles, konnte ich auch das nicht. Sie machte den nächsten Schritt und mir blieb gar nichts anderes übrig als ihr zu folgen. Also gingen wir diesen Weg entlang, der sich vor uns auftat. Überraschend auftat, so wie alles an diesem Moment. Der Weg, die Bäume, alles um uns herum war mit Schnee bedeckt. So unschuldig und rein, das Weiß des Schnees. So unheimlich und fremd, das Weiß des Schnees. Ich beobachtete ihre Schnürsenkel wie sie langsam naß wurden. Und hätte das gern verhindert. Ich hätte gern für Ordnung gesorgt, dort an ihren Schuhen, aber sie scherte sich nicht um ihre Schnürsenkel.

Das Rot der Schuhe wurde im Weiß des Schnees noch intensiver. Ich spürte die Kälte und gleichzeitig wärmte mich das Rot.

Ich wollte sie fragen, wo wir hingingen, aber ich tat es nicht. Wie so vieles, was ich nicht tat. Ich war beeindruckt von diesem Mädchen. Von ihrem sicheren Schritt, von ihrem Mut und von der Freiheit der roten Schuhe mit ungebundenen Schnürsenkeln. In Gedanken lehnte ich meinen Kopf an ihre Schulter. Und in dem Moment als ich meine Augen schließen wollte, um mich gänzlich in dieses Bild fallen zu lassen, ließ sie meine Hand los. Ich erschrak und geriet ins Taumeln. Es dauerte einen Moment bis ich mich wieder gefangen hatte und plötzlich überraschte mich ein Schneeball. Mitten ins Gesicht. Ich rang nach meinem Atem, schüttelte meinen Kopf, sortierte meine Gedanken. Das war der Anfang einer Schneeballschlacht. So dachte ich.

Aber das Mädchen war weg.
Und ich konnte keinen Schneeball formen. Wie so vieles was ich nicht konnte, konnte ich auch das nicht.

Weil meine Hände keine richtigen Hände waren. Mir fehlten die Finger. Ich hatte nie welche gehabt. So wie ich nie rote Schuhe mit roten Schnürsenkeln hatte.

Aber der Schnee in meinem Gesicht brachte mich zum Lachen. Ganz laut, und aus vollem Herzen. Und dann sah ich zwischen den Bäumen einen Fuchs, der mich ansah und mir zuzwinkerte.

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